7. Norris Henderson, Ex-Häftling – Gegen den Gefängnisstaat

Wer, Verlorener, wird es wagen? Wer sein Elend nicht mehr tragen? Keiner oder alle, alles oder nichts.“ Als sich in Oakland in einem Flughafenhotel Ex-Gefängnisinsassen aus ganz Amerika treffen, um ihre Initiativen zu einer nationalen Bewegung gegen den Gefängnisstaat zu bündeln, ist Norris Henderson mit dabei. Immer wieder skandieren Aktivisten an diesen zwei Tagen Passagen aus Brechts Revolutionsgedicht und recken dazu die geballte Faust in die Luft. „All of us, or noneKeiner oder alle.“ Norris Henderson murmelt das nur mit, die Hände in den Hosentaschen. Auch als er gleich zu Beginn der Konferenz auf dem Eröffnungspanel sitzt, sagt er nur wenig. Der 58-Jährige ist eher von der leisen Sorte – und doch hat er einigen Einfluss gewonnen.

2004, ein Jahr nach seiner Entlassung aus Angola, Louisanas berüchtigtem Hochsicherheitsgefängnis, hat er „Voice of the Ex-Offender – Vote“ gegründet, heute eine der bekannteren Gruppen in der wachsenden Bewegung gegen die Masseninhaftierung in den USA und für die Rechte Strafgefangener. Vote hat seine Büros in New Orleans, der Stadt aus der Henderson stammt und in die er nach seiner Entlassung zurückkehrte. Jener Stadt, in der einer von 14 afro-amerikanischen Einwohnern im Gefängnis sitzt.

Louisiana hat die höchste Rate von Inhaftierten pro Kopf in den USA, und die USA insgesamt haben die höchste Rate von Inhaftierten pro Einwohner der ganzen Welt. In Louisiana sitzen 800 von 100.000 Einwohnern hinter Gittern, im nationalen Durchschnitt waren es 2013 716. In Deutschland sind es nicht einmal 80. Schwarze gehen besonders häufig ins Gefängnis. „Insgesamt machen wir 35 Prozent der amerikanischen Gefängnisinsassen aus“, sagt Henderson. „Obwohl Schwarze nur knapp 13 Prozent der Bevölkerung stellen.“

Nach dem Ende der Konferenz in Oakland besuche ich Norris Henderson in New Orleans. Selbst im September ist das Klima hier tropisch. Auf der Fahrt mit dem Bus zu den Büros von „Vote“ halte ich mein Gesicht in den kühlenden Fahrtwind. Ich bin mal wieder die einzige Weiße im Bus. Das Gebäude liegt am St. Bernard Boulevard, im Hinterhof einer Kirche inmitten von bunt gestrichenen kleinen Südstaaten-Holzhäusern mit blühenden Gärten. Schwarze Libellen stehen in der Luft. Der Boulevard ist die Grenze zum schlechten Teil der Stadt. Als ich in der Innenstadt auf den Bus gewartet habe, warnte mich ein dicker weißer Typ: „Fahr da nicht hin. Wurde gerade Samstag erst wieder einer erschossen. Ist nicht Disneyland hier.“

Norris Henderson empfängt mich in einem viel zu großen Football-Trikot, die Nummer sieben der San Francisco 49ers. Es ist das Trikot von Colin Kaepernick, einem schwarzen Quaterback, der kürzlich die Hand aufs Herz während der Nationalhymne verweigert hat und stattdessen kniete, aus Protest gegen Polizeigewalt gegen Schwarze.

Henderson wurde 1977 für den Mord an der 19-jährigen Betty Jean Joseph verurteilt. Sie wurde auf offener Straße in New Orleans erschossen und beschuldigte Henderson und seinen Bruder im Sterben, zu den Schützen gehört zu haben. 2003, nach einem langen juristischen Kampf, wurde das Urteil aufgehoben. Henderson sagt, das Gericht habe Widersprüche in verschiedenen Aussagen ignoriert. Er glaubt, dass er auch deshalb verurteilt wurde, weil er schwarz ist. Er sagt, dass er den Mord nicht begangen habe.

Wie viele andere auch, sieht Henderson die Hauptursache für Amerikas übervolle Gefängnisse im „War on Drugs“, in harten Strafen selbst für den Besitz und Konsum kleiner Mengen Drogen. Richard Nixon begann diesen Krieg, Folgeregierungen führten ihn fort, auch Bill Clinton. Er erließ 1994 den „Violent Crime and Law Enforcement Act“, ein Gesetz, dass auch Hillary Clinton lange verteidigte – einer der Gründe, warum sie für viele Schwarze unwählbar ist. Louisiana hat außerdem besonders viele Privatgefängnisse. Sie nehmen gegen Geld Häftlinge aus den überfüllten nationalen Gefängnissen auf.

Henderson erinnert sich noch gut an den Tag, an dem er Angola verlassen durfte. Als er hinaustrat, öffnete sich das große Zufahrtstor und ein Gefängnisbus fuhr heraus. Der Bus brachte Insassen zu Gerichtsanhörungen nach New Orleans. Die Männer hieben von innen mit den Fäusten gegen die Scheiben und winkten. Norris Henderson winkte zurück. „Nur wenige Tage zuvor hatte ich selbst in diesem Bus gesessen, auf dem Weg zu meiner letzten Anhörung. Jetzt war ich draußen. Es war surreal.“

Angola ist eines der berüchtigtsten Gefängnisse der Vereinigten Staaten. Es ist eine kleine Stadt mit 5000 Insassen, gebaut auf einer ehemaligen Sklaven-Plantage zwei Stunden außerhalb von New Orleans. Bis heute wird das Land von den überwiegend schwarzen Insassen bewirtschaftet. Jeden Morgen ziehen Trupps von Häftlingen fünf Meilen zu Fuß hinaus auf die Felder, zum Mittagessen wieder zurück in die Gefängnisgebäude, danach wieder hinaus auf die Felder. Ich habe versucht, Zugang zu Angola oder einem anderen staatlichen Gefängnis in Louisiana zu erhalten, doch meine Anfrage an die Gefängnisverwaltung wird bis heute „geprüft“.  Ich hoffe, dass Norris mir mehr über den Alltag dort erzählen kann, doch bei allem, was seine Zeit dort betrifft, ist er sehr einsilbig.

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Joe, ehemaliger Gefängnisinsasse

Joe hingegen ist ein guter Erzähler. Ich habe ihn auf der Konferenz in Oakland getroffen. Joe saß 27 Jahre in Folsom und Troy ein, beides Haftanstalten in Kalifornien.

„Du stehst um 5.30 Uhr auf. Du gehst zum Frühstück. In Folsom essen die Gefangenen in einem Zirkel. Die Wärter gehen hinter den Gefangenen entlang im Kreis und teilen das Essen aus. Wenn der Wärter den Kreis einmal abgeschritten hat und wieder an deinem Platz ankommt, musst du fertig sein und aufstehen und der nächste setzt sich hin.“

Joe ist heute ebenfalls Ende 50. Als junger Mann war er drogenabhängig. „Ich habe eine Dealer ausgeraubt und ermordet“, sagt er. Er sucht meinen Blick und hält ihn, bis ich wieder auf meine Notizen blicke. Joe setzt seine Erzählung fort.

„Gewalt. Darauf musst du dich vorbereiten. Wenn du schwach bist, oder wenn du ihnen erlaubst, zu denken, du seist schwach, wirst du vergewaltigt, oder ausgeraubt oder geschlagen. Ich habe damals viel trainiert, mich vorbereitet. Am besten ist, man hält sich fern von den anderen, von den falschen Leuten.“

„Sie kommen kaputter heraus, als sie hereingehen“, sagt Joe.

In seinen 27 Gefängnisjahren hat Joe mit vielen anderen Männern die Zelle geteilt. Manche stanken. Manche stammelten wirres Zeug vor sich hin. Manche hatten nervöse Ticks. Manche schrien und warfen mit Gegenständen. Manche waren verrückt. Manche waren bösartig. „Sie kommen kaputter heraus, als sie hereingehen“, sagt Joe. Die Herausforderung ist, einen klaren Kopf zu behalten. Joe hat das offenbar irgendwie geschafft. Er sagt, er hat verdient, was er bekommen hat. Aber jetzt hat er bezahlt – und ein Recht auf ein normales Leben. Die Arbeitssuche war nicht leicht, aber er hat Arbeit gefunden, als Automechaniker, auch, weil er das „Häkchen“ nicht gesetzt hat.

Auf der Fensterbank von Norris Hendersons Büro in New Orleans steht ein gerahmter Zeitungsausschnitt. Das Foto zum Text zeigt Louisianas Gouverneur John Bel Edwards mit Aktivisten bei der Unterzeichnung eines Gesetzes, das Ex-Inhaftierten die Arbeitssuche erleichtern soll. „Ban the Box – Schafft das Häkchen ab“ ist eine wichtige Forderung der Bewegung. Arbeitgeber sollen dazu gebracht werden, die Standardfrage nach Vorstrafen von ihren Bewerbungsbögen zu verbannen. In Louisiana wurde es zumindest für staatliche Jobs abgeschafft. Die Obama-Regierung ist gerade dabei, dasselbe auf nationaler Ebene zu tun, mit Ausnahme von Stellen im Sicherheitsbereich. Die Obama-Regierung hat viele kleine Initiativen gestartet, Wiedereingliederungsprogramme etwa. Obama hat außerdem ein großes, aber noch unvollendetes Begnadigungsprogramm angestoßen. Der republikanisch dominierte Kongress rang sich sogar zu einem Gesetz durch, das Gefängnisstrafen für Drogendelikte verkürzt. Die amerikanische Gefängnisindustrie ist ein Milliardenmarkt für private Betreiber – verschlingt aber auch jedes Jahre Milliarden. Das macht Allianzen mit marktliberalen Kräften möglich.

Das Gespräch mit Joe auf der sonnigen Parkplatzbank in Oakland wird von den Sprechchören unterbrochen, die vom Konferenzgebäude zu uns herüber hallen. „All of us, or none.“ Wer, Verlorener, wird es wagen? Wer sein Elend nicht mehr tragen?

Joe steht auf. Er braucht sie nicht, die große Revolution, die große Politik. Das Gefängnis habe ihn gelehrt, die kleinen Dinge im Leben zu schätzen. Die Hände um ein Stück feuchten Ton legen und ein Gefäß daraus formen. Mit einer Frau zu sprechen. Morgens aufzustehen, und frei zu sein.

Beitragsbild: Anna Sauerbrey

Zum Epilog: Gibt es eine neue amerikanische Bürgerrechtsbewegung?