Als Barack Obama am 4. November 2008 zum Gewinner der amerikanischen Präsidentenwahl erklärt wurde, umarmte Walter Kamau Bell wildfremde Menschen auf der Straße. Wildfremde Menschen umarmten ihn. Seine Mutter war extra für diesen Tag aus Indiana eingeflogen. Vor dem Fernseher war sie in Tränen ausgebrochen. „Sie ist in den 1930er Jahren in Indiana aufgewachsen, wissen Sie“, erzählt Bell. „Mit getrennten Toiletten für Weiße und Schwarze. Wenn sie ins Kino ging, musste sie auf getrennten Rängen sitzen. Wir dachten, jetzt haben wir unseren Mann im Weißen Haus – jetzt wird alles gut.“
2008 war Bell gerade dabei, an seiner ersten Comedy-Show zu schreiben, die auch landesweit Beachtung finden würde. Sie heißt „Wie man Rassismus in einer Stunde beendet“. Heute ist er 43 Jahre alt und hat eine Show auf CNN. Er versucht immer noch, den Rassismus in einer Stunde zu beenden, und ist ernüchtert, was den schwarzen Mann im Weißen Haus angeht.
Ich treffe Bell im Anschluss an einen Auftritt in St. Mary’s College, Maryland, einem kleinen College inmitten von Wäldern und Maisfeldern zwei Stunden südwestlich von Washington. Auf dem Campus sind in jüngerer Zeit Hakenkreuze auf Autos geschmiert und bei einem Trinkspiel Bierdosen mit Konföderiertenflaggen geschmückt worden. Ein Englisch-Professor hat Bell deshalb gebucht. Er soll helfen, auf dem Campus „das Gespräch in Gang zu bringen“ – das Wort Rassismus benutzt der Englisch-Professor nicht.
„Ich bin ein zwei Meter großer Schwarzer“, sagt Bell, ein sympathischer, bäriger Typ mit Afro-Haarschnitt, wahrscheinlich der perfekte Dad. „Ich laufe mit der Gewissheit herum, dass sich diese Tatsache jederzeit negativ auswirken könnte. Ich bin ständig auf der Hut. Es ist ein bisschen, als würde ich immer mit einem Regenschirm herumlaufen, auch, wenn es nicht regnet.“
Wir sitzen auf der Tribüne der Basketball-Arena des Colleges. Bells Show lebt von den Absurditäten des amerikanischen Alltagsrassismus. Davon, dass das People Magazine zwar den kaputten Alkoholiker Nick Nolte, aber in 30 Jahren nur einen Schwarzen zum „Sexiest Man Alive“ gewählt hat. Davon, dass es Weiße gibt, die Schwarze, die sie nicht einmal kennen, fragen, wie sie das mit ihren Haaren machen – und ob sie die mal anfassen dürfen.
Unten bauen Roadies die Bühne ab. Die rund 300 Studenten, die sich Bells Show angesehen haben, sind mit Autogrammen versorgt und Bell erzählt von dieser Sache in einem Café in Berkeley, Kalifornien, wo er mit seiner Familie lebt. Vor eineinhalb Jahren hatten Bell und seine Frau Melissa, die weiß ist, gerade ihr zweites Baby bekommen. Melissa war mit ihren Freundinnen im Café verabredet. Bell schaute vorbei. Die Frauen saßen mit ihren Kinderwagen draußen, Bell zeigte den Frauen ein Buch, das er gerade gekauft hatte. Es war ein Kinderbuch über Richard und Mildred Loving, den weißen Mann und die schwarze Frau, die 1967 vor dem Supreme Court das historische Urteil erstritten, das es allen Bundesstaaten untersagte, schwarz-weiße Ehen zu verbieten oder einzuschränken. Plötzlich klopfte jemand von innen gegen die Scheibe. Eine Mitarbeiterin des Cafés machte eine wedelnde Handbewegung. „Ich frage mich noch – meint sie etwa mich? Da kam sie auch schon heraus und sagte, ich solle verschwinden“, erzählt Bell. „Was soll das, sagte ich, ich unterhalte mich mit meiner Frau. Sie sagte, ach, so, ich dachte, du wolltest etwas verkaufen.“
Ich fühle mich ertappt. Es ist erst ein paar Tage her, dass ich in New York in eine ähnliche Vorurteilsfalle getappt bin. Ich war um fünf Uhr morgens aufgestanden, um zum Flughafen zu fahren. Ich hatte nicht mehr genug Bargeld und bat den Fahrer deshalb, an einem Bankautomaten zu halten. Er ließ mich an einer Bank of America an der Lower East Side heraus. Es war stockdunkel. Im Foyer der Bank standen mehrere Automaten. Neben mir zog ein junger, schwarzer Mann in einem roten Kapuzenpulli Geld. Ich war noch mit meiner Karte beschäftigt, als er fertig war und hinter mir vorbei zum Ausgang ging. Ich drehte mich um. Wir sahen uns an. Er sagte: „Hey Miss, gib mir dein Geld.“ Dann lachte er, schüttelte den Kopf und ging.
Zurück im Taxi spielte ich die Szene noch einmal. Es war ein ziemlich fieser Witz, aber er hatte recht. Ich hatte Angst gehabt, weil er ein junger, schwarzer Mann war. Ich hatte mich reflexartig umgedreht, weil ich halb erwartete, gleich ausgeraubt zu werden und mich zur Flucht bereit machte.
Für seine CNN-Sendung „United Shades of America“ untersucht W. Kamau Bell die Subkulturen des Landes. Oft geht er an Orte, die nie zuvor ein Schwarzer gesehen hat (und die nie zuvor einen Schwarzen gesehen haben). In der Pilotfolge spricht er mit einem Imperial Wizard des Ku Klux-Klan, der darauf bestand, ihn mitten in der Nacht auf einer Landstraße zu treffen – nur um ihm zu sagen, dass seine Ehe eine „Abscheulichkeit sei, schlimmer als eine Sünde“.
Doch der antiquierte, religiöse Rassismus des Klan schreckt ihn nicht. Viele der Klan-Mitglieder, die er traf, taten ihm leid. Unglückliche, vom Leben benachteiligte weiße Männer, die ein Ventil suchen. „Der Klan ist nicht mehr Amerikas Teufel. Ich wusste, ich kann jederzeit gehen und einen Burrito essen.“
Doch den Stereotypen in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft kann er nicht entgehen. Was ihn besonders frustriert ist, wenn Leute wie jene Café-Mitarbeiterin nicht willens oder in der Lage sind, ihre eigenen Vorurteile zu reflektieren. „Wir denken alle in Schablonen. Die Frage ist, ob man ohne weiteres Nachdenken danach handelt, oder ob man willens und in der Lage ist, die eigenen Gedanken zu kontrollieren.“
Bell glaubt, Amerika brauche eine Art Verhaltenstherapie, ein großangelegtes Neu-Programmieren der Köpfe, einen Bruch mit jenen Stereotypen, von denen seine Shows handeln. Bell geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wir denken. Er will, dass auch bei Weißen ständig eine zweite Bewusstseinsebene mitläuft, ein Vorurteils-Selbst-Check – so wie er nie vergessen kann, dass er schwarz ist. Bei aller Enttäuschung über Obama meint Bell, dass der erste schwarze Präsident das Land bei der Therapie ein gutes Stück weitergebracht hat. „Diese smarte, gebildete, sympathische Familie im Weißen Haus – das war genau die Sorte schwarze Familie, die dieses Land jeden Tag im Fernsehen sehen sollte.“
Der große Freiheitskampf der Schwarzen als gesellschaftliche Psychotherapie? In Oakland hatten Aktivisten Brecht skandiert: „Sklave, wer wird dich befreien? Keiner oder alle. Alles oder nichts. Einer kann sich da nicht retten. Gewehre oder Ketten.“ Nichts scheint mir ferner von diesem revolutionären Duktus als eine Psychotherapie. Und das ist Teil des Problems. Der Kampf des schwarzen Amerika gilt im Alltag oft den sublimen Formen der Benachteiligung, den unsichtbaren Ketten, gegen die Gewehre so wenig helfen wie Gesetze. Dem Kampf gegen den Alltagsrassismus fehlt das Unerhörte, Existenzielle. Es droht ständig die Akzeptanz der Gewöhnung. Und wie schafft man es in die Köpfe der Weißen?
Bell hatte damals beschlossen, diese Szene nicht auf sich sitzen zu lassen. Er machte sie öffentlich. Es gab einen Diskussionsabend, an dem auch der Café-Besitzer teilnahm. Die Mitarbeiterin wurde gefeuert. Und dann hörten die Leute auf, Bells Emails zu beantworten. Die Initiative schlief wieder ein.
Weiter zu Kapitel 2: Wie es Patrisse Cullors Bruder im Gefängnis ergingt, wie sie unbeabsichtigt eine Bewegung gründete, die keine Bewegung sein will, und warum sie geheiratet hat