Am Abend des 13. Juli 2013 saß Patrisse Cullors allein auf ihrer Couch und war doch in ihrer Fassungslosigkeit mit Tausenden anderen verbunden: George Zimmerman war freigesprochen worden, jener Nachbarschafts-Wachmann, der 2012 den schwarzen Teenager Trayvon Martin auf dem Heimweg von einem Supermarkt verfolgt und erschossen hatte, weil er fand, dass er verdächtig aussah in seinem Hoody, seinem Kapuzenpullover.
Ihr Account sei förmlich explodiert, erzählt Patrisse Cullors, als sich Tausende ihren Frust von der Seele twitterten. An diesem Abend schickte sie auch mit zwei Bekannten Twitter-Botschaften hin und her, Opal Tometi und Alicia Garza. „Alicia schrieb, Black Lives Matter‘ (Schwarze Leben zählen) und ich nutzte den Satz als Hashtag“, erzählt Patrisse Cullors. Das Schlagwort verbreitete sich viral – und wurde zum Kampfruf. Ein Jahr später, nachdem in Ferguson der schwarze Schüler Michael Brown von einem weißen Polizisten erschossen worden war, organisierte Cullors dort gemeinsam mit anderen die erste große Demonstration unter dem Schlagwort Black Lives Matter.
Während der Amtszeit von Obama kam es mehrfach zu Massenprotesten wegen Polizeigewalt gegen Schwarze, manche mündeten in Ausschreitungen. 2014 in Ferguson, zum Beispiel, 2015 in Baltimore nach dem Tod von Freddie Gray in Polizeigewahrsam, und erst im September in Charlotte, North Carolina, nach dem Tod von Keith Lamont Scott. Einer Datenbank der „Washington Post“ zufolge wurden allein zwischen Anfang 2015 und Juli dieses Jahres 732 weiße und 381 schwarze Amerikaner von Polizisten erschossen. Schwarze machen nur rund 13 Prozent der amerikanischen Gesamtbevölkerung aus, gemessen daran werden sie 2,5 Mal so häufig von Polizisten erschossen wie Weiße.
Cullors ist Anfang 30. Ihr Haar ist zur Hälfte rasiert, zur anderen Hälfte zu Dreadlocks geflochten, ihre Arme sind tätowiert. Ich treffe sie in Oakland, Kalifornien. Sie ist in der Stadt, um den 20. Geburtstag des Ella Baker Center for Human Rights zu feiern, einer kalifornischen Bürgerrechtsorganisation, für die sie arbeitet. Wir sind an diesem Nachmittag die einzigen Gäste in einem asiatischen Restaurant in Downtown. Draußen rumpeln Lastwagen vorbei.
Patrisse Cullors ist in Los Angeles aufgewachsen, wo sie heute noch lebt. Ihr Vater saß mehrfach wegen Drogendelikten im Gefängnis und starb als Obdachloser. Ihre Mutter hatte mehrere Jobs, um sie und ihre acht Geschwister durchzubringen. „Wir haben sie so gut wie nie gesehen“, sagt Patrisse. Einer ihrer Brüder wurde wegen Drogenbesitzes verhaftet. Er hat eine bipolare Störung. Im Gefängnis kam es zu einer Auseinandersetzung mit Wärtern.
„Sie haben ihn geschlagen, ihm Wasser verweigert, ihm Decken verweigert, ihm nichts zu essen gegeben, ihn gewürgt“, sagt Cullors.
Laut einem Bericht der LA Times über den Vorfall gab Cullors Bruder zu, einen Beamten geschlagen zu haben, reichte aber auch schriftlich Beschwerde gegen die darauf folgenden Misshandlungen ein. Ihr Bruder wurde wegen Gewalt gegen einen Sicherheitsbeamten verurteilt, keiner der Beamten wurde belangt. „Deswegen mache ich das, was ich heute mache“, sagt Patrisse.
Im vergangenen Jahr hat Patrisse ihre Lebenspartnerin geheiratet, eine schwarze Transgender-Frau aus Toronto. Die beiden hatten sich kurz nach dem historischen Obergefell-Urteil des Supreme Court kennengelernt, das die Ehe für alle in allen Staaten ermöglicht. Patrisse schrieb über ihren Entschluss, zu heiraten im „Esquire“: „Ich wusste, zusammen können wir die Ehe als weißes, heteronormatives Konstrukt herausfordern. Wir können ein neues Narrativ bauen, das in der schwarzen Liebe verwurzelt ist. Janaya und ich verstehen unsere Liebe als Akt des politischen Widerstands.“
„Die in tiefster Tiefe stehen/Werden, Kamerad, dich sehen/Und sie werden hör’n dein Schreien: Sklaven werden dich befreien.“ Einige Tage zuvor habe ich in Oakland schwarze Ex-Gefangene und Aktivsten Brecht’s Gedicht „Keiner oder alle. Alles oder nichts.“ skandieren gehört. Patrisse Cullors Antrieb ist ihre eigene Biographie, ihre Kraft kommt aus den „tiefsten Tiefen“, die sie selbst oder jene, die ihr nahestehen, erlebt hat. Zwischen ihrer Person, ihrem Leben und ihrem Engagement gibt es keine Trennlinie, nicht einmal in ihrer Liebe. Es ist alles oder nichts.
Als Patrisse Cullors am Nachmittag im Hotel eincheckt, laufen auf dem Fernsehgerät in der Lobby gerade die Nachrichten. Der Ton ist ausgeschaltet. Cullors betrachtet einen Moment lang, wie Donald Trumps stummer Mund Nichts spuckt. Dann wendet sie sich mit einem leisen Kopfschütteln wieder der Hotelangestellten zu.
Es gibt nichts für sie in diesem Wahlkampf. Die Debatte fokussiert auf die Charaktere der beiden Kandidaten, Email-Schlamperei gegen sexistische Ausfälle. Die Dinge, die Patrisse Cullors antreiben – Polizeigewalt, Rassismus, der Gefängnisstaat, die Ehe für alle – sind nur Dekor. Obama hätte sich klarer positionieren können, meint sie, sagt aber auch, dass er unter zahlreichen Zwängen stand und teilweise in die Handlungsunfähigkeit gezwungen war.
Barack Obama hat in diesem Jahr, nach dem Tod der schwarzen Männer Philando Castille und Alton Sterling durch Polizisten Black Lives Matter Aktivisten ins Weiße Haus eingeladen. 2012, als Trayvon Martin ermordet wurde, sagte, hätte er einen Sohn, würde er aussehen wie Trayvon. Aber er versuchte, zu vermeiden, als Präsident für die Schwarzen gesehen zu werden – und signalisierte deshalb auch immer wieder Solidarität mit der Polizei.
Und Clinton? „Von ihr kam einfach noch nicht genug, als dass ich sie unterstützen könnte“, sagt sie. Vielleicht wird sie die Grünen wählen.
Am Abend geht Patrisse Cullors zum Geburtstagsempfang des Ella Baker Center. Sie trägt ein weißes Abendkleid und viel Goldschmuck. Unter der großen Glaskuppel des Rotunda-Gebäudes in Downtown herrscht Feierstimmung. Gläser voll Sekt und Kombudscha klirren. „Dieses Mal ist es anders“, ruft Zachary Norris, der Geschäftsführer, den Feiernden zu. „Dieses Mal geht es wirklich voran.“ Demnächst wird in Kalifornien ein Gesetz unterzeichnet, dass die Einzelhaft in Jugendgefängnissen abschafft. Das Ella Baker Center hat den Gesetzentwurf mit entwickelt. Auch in Los Angeles haben Patrisse Cullors und ihre Mitstreiter eine wichtige Forderung durchgesetzt: Das Sheriff Department, verantwortlich für jenes Gefängnis, in dem ihr Bruder inhaftiert war, bekommt in Kürze ein zivilgesellschaftliches Aufsichtsgremium. „Meinem Bruder ist keine individuelle Gerechtigkeit widerfahren“, sagt Patrisse. „Das ist dennoch eine Genugtuung.“
Beitragsbild oben: Courtesy of Patrisse Cullors
Weiter zu Kapitel 3: John Lewis, Ikone der Bürgerrechtsbewegung – eine Geschichte über die Entfremdung der Generationen – und Versuche, sie zu überbrücken.