Mitte September lädt die Congressional Black Caucus Foundation zu ihrer jährlichen Konferenz nach Washington D.C. Die CBCF ist eine Bildungsstiftung, die der Vereinigung der schwarzen Abgeordneten im US-Kongress nahesteht. Es ist das große Treffen des schwarzen politischen Establishments, das Ende der politischen Sommerpause. In den Fluren des Kongresszentrums eilen hunderte smart gekleidete Politiker, Parlamentsmitarbeiter, Aktivisten und Lobbyisten durch ein waberndes Gesprächssummen. Die meisten sind Afro-Amerikaner. Im Raum 38A wird die Luft dünn – John Lewis, eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung, ist gekommen, um mit der jungen Generation darüber zu diskutieren, wie Aktivisten heute Einfluss auf politische Prozesse nehmen können. Und jeder will ihn sehen. Ich bin hier, um ihn zu fragen, wie er zu Black Lives Matter steht.
John Lewis ist heute 76. Ihn umgibt die Magie der Geschichte. Ein bekanntes Bild zeigt ihn gemeinsam mit Martin Luther King und anderen Bürgerrechtsaktivisten im Oval Office neben John F. Kennedy. Er ist der einzige, der direkt in die Kamera blickt. Als junger Mann war er Vorsitzender des SNCC, des Student Non-Violent Coordinating Committee, eine der wichtigsten Organisationen in der der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre. John Lewis hat an den ersten „Freedom Rides“ teilgenommen, als junge weiße und schwarze Leute mit Überlandbussen von Washington in die Südstaaten fuhren, um gegen die Segregation zu protestieren, Aktionen, denen mit brutaler Gewalt begegnet wurde. Weiße Männer drückten Zigaretten auf seinem Kopf aus bei den Sit-ins in Kaufhaus-Restaurants in den Südstaaten, die Schwarze eigentlich nicht betreten durften. Er war Mitorganisator des „March on Washington“, einer der größten Demonstrationen, die das Land je gesehen hat. Auf dem Protestzug von Selma nach Montgomery 1965, an jenem historischen „Blutigen Sonntag“, wurde er von einem Landespolizisten niedergeknüppelt und erlitt eine Schädelfraktur.
Black Lives Matter-Aktivisten sitzen nicht auf John Lewis‘ Podium. Auch sonst nehmen sie keine prominenten Plätze im Programm der Konferenz ein. Das Verhältnis zwischen dem schwarzen politischen Establishment und der älteren Generation der Bürgerrechtsbewegung auf der einen Seite und den Aktivsten der Black Lives Matter-Generation auf der anderen ist von Entfremdung geprägt. Die heute jungen Schwarzen kennen die Segregation nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Während die Älteren vor allem sehen, was sie alles erreicht haben, sehen die Jüngeren vor allem, was alles noch nicht erreicht ist.
John Lewis geht auf die junge Generation zu, zumindest ein Stück weit. Er hat sein Leben als Graphic Novel veröffentlicht, „March“ heißt diese Trilogie. Er erlaubte seinen Mitarbeitern, ein Video von ihm auf Youtube zu veröffentlichen, das ihn zeigt, wie er zu Colin Pharrels „Happy“ tanzt. In einem Interview hat er auf eine Frage nach Black Lives Matter einmal gesagt, Martin Luther King wer stolz auf diese jungen Leute gewesen. Aber er hält auch die Distanz. Er nimmt nicht an ihren Protesten teil und seine Pressesprecherin erklärt mir, er werde zu diesem Thema keine Interviews geben. Als ich mich umhöre warum, sagt ein Mitarbeiter aus einem Abgeordnetenbüro, Black Lives Matter sei eben ein wenig „murky“, ein wenig „düster“.
Einige aus Lewis‘ Generation haben die jungen Aktivisten ganz offen angegriffen. Andrew Young, ein Vertrauter von Martin Luther King, der später US-Botschafter bei den Vereinten Nationen wurde, bezeichnete die Aktivisten kürzlich als „unsympathische Rotzgören“ und beklagte, anders als seine Generation, die bei Demonstrationen stets mit Gewalt und dem Tod bedroht war, könnten „diese Kids sich großtun ohne irgendwelche Konsequenzen“. Er warf ihnen vor, „das Klima zu vergiften, das wir 50 Jahre lang aufgebaut haben.“ Barbara Reynolds, eine Schriftstellerin und Journalistin, schrieb im August in einem Essay, Black Lives Matter sei zu konfrontativ, grenze Weiße ebenso wie andere Minderheiten aus. „Bei den heutigen Protesten ist es schwierig, legitime Aktivisten von jenen zu unterscheiden, die brennen und plündern. Die Demonstrationen sind durchwachsen von Hassrede, von Typen in Baggy-Pants, bei denen man die Unterwäsche sieht.“
„Ich ging in einen Second-Hand-Laden im Zentrum von Nashville und kaufte mit einen Anzug“, erzählt John Lewis. Er spricht ein paar Worte zu Eröffnung. Lewis‘ Vater bewirtschaftete eine kleine Farm in Alabama: Mais, Erdnüsse, Kühe, Hühner. Lewis‘ schloss sich der Bürgerrechtsbewegung an, nachdem ihm eine Karte für die lokale Bücherei verwehrt wurde.
„Ich hatte nicht viel Geld. Aber ich gab fünf Dollar für diesen Anzug aus. Wir wussten, dass wir während der Demonstration verhaftet werden könnten. Und als ich dann tatsächlich verhaftet wurde, fühlte ich mich sauber und frisch, ich sah gut aus.“
Die Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre, angeführt von Martin Luther King, legte Wert auf ein würdevolles Äußeres. Man wollte auf Augenhöhe verhandeln. Der Druck der Straße war der Schlüssel zu den Türen der Macht. Erst wurde protestiert, dann verhandelt – bis Lyndon B. Johnson den Voting Rights Act von 1965 unterstützte.
„Ich kenne zu viele junge Aktivisten, die nicht mehr mit Leuten reden, die nicht ihrer Meinung sind, und die die grundsätzlich nicht mehr mit Republikanern reden“, sagt Laura Murphy. Die Diskussion in Raum 38A ist jetzt in vollem Gange. Zuerst hat Marbre Stahly-Butts gesprochen, eine junge New Yorker Aktivistin mit großen Afro-Ohrringen, es war eine hastige, sehr engagierte Rede, die damit endete, dass sie forderte, „den Krieg gegen die schwarze Bevölkerung zu beenden“. Jetzt ist Laura Murphy an der Reihe, eine Lobbyistin mit mehreren Jahrzenten Erfahrung in Washington. Schmiedet Allianzen, sagt sie den jungen Leuten im Publikum. Sprecht mit euren Gegnern, sucht Gemeinsamkeiten. „Es muss immer auch jemanden geben, der das Insider-Spiel spielt. Wir beschuldigen uns immer viel zu schnell gegenseitig, uns zum schwarzen Büttel der Macht zu machen.“ Lewis gibt wenig konkrete Tipps. Seine Ermunterungen („Let’s get in some trouble, good trouble!”) haben etwas Entrücktes.
Dann wird die Diskussion für das Publikum eröffnet. Eine junge Frau fragt John Lewis nach Malcolm X. „War es nicht in Wahrheit die Black Power Bewegung um Malcolm X, die implizite Drohung mit Gewalt, die der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King erst das nötige Verhandlungsgewicht gab?“ Nein, sagt Lewis. Malcolm X sei kurz vor seiner Ermordung näher an die Bürgerrechtsbewegung herangerückt. „Er wollte uns unterstützen. Ich bin sicher, hätte er überlebt, wäre er mit uns am Blutigen Sonntag von Selma nach Montgomery marschiert.“
Nicht Schwerter haben den Sieg errungen, auf diese Interpretation der Geschichte besteht Lewis. Sondern die Kraft der Gemeinschaft. Vor einigen Tagen habe ich Aktivisten in Oakland Brechts Revolutionsgedicht „Keiner oder alle“ skandieren gehört. Für Lewis ist das „alle“ der heutigen Bewegung vor allem die Solidarität, der Zusammenhalt.
Ist Black Lives Matter eher Malcolm X oder eher Martin Luther King? „Unser Ziel ist es, zu stören, unsere Methode ist die Aktion“, sagt Patrisse Cullors, eine der Gründerinnen von Black Lives Matter, als ich sie treffe. „So wie bei Martin Luther King.“ Aber auch auf Seite der Jungen ist eine gewisse Fremdheit zu spüren. Patrisse Cullors Generation fremdelt mit den großen männlichen Führungsfiguren der Geschichte. Cullors glaubt an die Kollaboration, an Netzwerke. Für sie ist das „alle“ in Brechts Sklavenbefreiungsgedicht „Keiner oder alle“ die Macht des Schwarms. Bei Black Lives Matter führt mal diese, mal jene lokale Gruppierung eine Aktion an. Doch der Schwarm zeichnet sich nicht durch Solidarität aus – sondern durch Synergien, die zufällig entstehen, wenn viele dasselbe wollen.
Beitragsbild oben: Rik S. Lesser/dpa