An jenem Tag, an dem D. Watkins seine Zulassung zu mehreren guten Colleges in den Vereinigten Staaten feierte, wurde sein großer Bruder Bip erschossen.
Bip Watkins war eine große Nummer in East Baltimore: ein Drogendealer mit einem ganzen Fuhrpark voller Luxusautos – und einem kleinen Bruder, Dwight, der bei ihm lebte und ihn verehrte. Dann lag Bip eines Tages erschossen auf dem Asphalt vor einem Koreanischen Schnellimbiss, während sein kleiner Bruder, D., der noch ein Teenager war, um sich trat und schrie bis ein Polizist ihn brutal auf den Boden zwang.
Heute ist D. Watkins 35 Jahre alt, hat zwei Bücher veröffentlicht, schreibt für die „New York Times“ und Salon und lehrt an zwei verschiedenen Universitäten – eine sehr unwahrscheinliche amerikanische Bildungsgeschichte. Wie hat er das geschafft?
Ich treffe Watkins auf der guten Seite von Baltimore, in die Nähe des inneren Hafens. Ein Ring schicker Apartments mit Bootsanlegern säumt das Wasser. Investoren aus dem Gesundheitssektor haben Watkins als Redner gebucht. Sie wollen mehr über die Stadt wissen, die erst kürzlich wieder wegen ihrer hohen Mordrate Schlagzeilen machte. 55 Morde kommen hier auf 100.000 Einwohner. In Berlin sind es weniger als vier.
Watkins trägt noch ein Plastiknamensschild an seinem schwarzen Hoody. Wir setzen uns draußen in die Sonne. Er hat den elastischen Gang eines Basketballspielers und wirkt beinahe schüchtern. Watkins erzählt von der Schule seines Neffen Butta, die er einmal besucht hat, um zwischen Butta und einem Lehrer zu vermitteln: am Eingang ein kaputter Metalldetektor, die Flure schmutzig, der Geruch von Pisse. Butta verbringe jeden Tag sechs Stunden mit einem Aushilfslehrer, der den Schülern erlaubt, die ganze Zeit auf ihren Smartphones zu spielen. „Meine Schule war genauso“, sagt er. „Und die Schule, die mein Dad besucht hat, auch.“
Die meisten amerikanischen Schulen erhalten einen guten Teil ihrer Mittel aus lokalen Grundsteuer- und Einkommenssteuereinnahmen. Deshalb haben Schulen in ärmeren Vierteln oft wenig Geld und damit weniger Lehrer, größere Klassen, weniger Computer und schlechtere Sportanlagen. Den vielen Problemen in diesen Schulen aber begegnen die Verantwortlichen oft mit großer Härte – und mit dem Einsatz von Polizisten. Kritiker sprechen von einer „school-to-prison-pipeline“, einem direkten Weg von der Schule in den Knast. Schwarze und Hispanics sind überproportional häufig betroffen.
Bip, D. Watkins großer Bruder, hielt ihn vom Drogengeschäft fern. Er wollte, dass Watkins auf das College ging. Bip gab ihm auch sein erstes Buch, eine Malcom X-Biographie, die Watkins pflichtschuldig, aber ohne Leidenschaft las. „Trotzdem war das eine große Sache“, sagt Watkins „Ich hatte ein Buch zu Ende gelesen – keiner meiner Freunde hatte das jemals geschafft.“
Nachdem Bips Tod fiel Watkins in eine tiefe Depression. Ein Freund überredete ihn schließlich, trotzdem das College zu besuchen. An seinem ersten Tag in Loyola College trug D. Watkins seine Gucci-Jogging-Hose und jede Menge von Bips Bling-Bling. „Dort, wo ich herkomme, sagen die Leute ‚Hi‘, wenn sie sich begegnen und wechseln ein paar Worte. Wenn ich am College zu jemandem ‚Hi‘ sagte, machten die immer so“, sagt D. Watkins und verzieht den Mund zu einem kühlen, falschen Lächeln. Nach einem halben Jahr brach er das College ab und zog sein eigenes Crack-Business auf.
„Wir waren Tiere“, schreibt er in „The Cook Up“ über das Geschäft. Tiere, die Crack an jeden verkauften, der es bezahlen konnte, Schwangere, Mütter, Teenager. Als Watkins sich in eine Frau verliebte, die keinen Kriminellen wollte, ging er zurück an die Uni. Dort gab eine Englisch-Professorin ihm Bücher von Sister Souljah, eine Autorin, die „Street Literature“ salonfähig gemacht hatte. Er entdeckte, dass er Bücher liebte. „Das Lesen hat mich gerettet“, schreibt er.
In East Baltimore lesen Kinder nicht. Die Geschichte, die sie prägen, hören sie auf den „stoops“, den Stufen aus Marmor oder Beton, die hinaufführen zu den Türen der kleinen Reihenhäuser, die den Stadtteil prägen. Die „stoops“, sagt D. Watkins, sind die Relaisstationen des Viertels. Hier wird alles Wichtige weitererzählt: Wer fährt welches Auto, wer hat welches Mädchen, wer hat wen umgebracht.
Am Nachmittag nach unserem Gespräch fährt D. Watkins zum traditionellen Herbsttreffen des schwarzen politischen Establishments nach Washington. Er sitzt bei der Konferenz auf einem Podium („Die verstehen uns nicht mehr, das werde ich ihnen sagen“). Ich bleibe in Baltimore, statte den „stoops“ einen Besuch ab und lasse mir dort Geschichten erzählen.
Auf Watkins Rat hin gehe ich in den Straßen unmittelbar östlich des Johns Hopkins Krankenhauses spazieren, was so etwas wie der gute Teil des schlechten Teils der Stadt ist. Die zu Blocks gepressten Reihenhäuser sind hier und da unterbrochen von asphaltierten Höfen, in denen Müll liegt und in denen es nach Katzenpisse stinkt. Es ist Freitagnachmittag und auf den Stufen vor den Häusern knistern die Gespräche in der Spätsommersonne. Schwarze Männer und Frauen sitzen nach Geschlechtern getrennt. Vor einem Haus in der Jefferson Street schneidet eine Transgender-Frau ihrer Freundin die Haare.
Nachdem ich etwa eine halbe Stunde ziellos herumspaziert bin, begegne ich Mitchell, dem Schachspieler, wie er in dieser Geschichte heißen möchte, vor einem Kiosk. Er ist um die sechzig, ein drahtiger kleiner Mann mit Baseballmütze und Sonnenbrille, in der Hand eine Flasche Corona in einer schwarzen Plastiktüte. „Darf ich fragen, was eine Person von Ihrer Hautfarbe hier macht?“, fragt er höflich und lädt mich, nachdem er meinen Presseausweis gründlich geprüft hat, ein, ihm bei einem Joint Gesellschaft zu leisten. „Keine Fotos, keine Filme. Und: Ich teile nicht.“
Während er sein Dope aus einem orange-farbenen Medikamentendöschen auf Zigarettenpapier schüttelt, erzählt Mitchell, dass er früher Crack genommen hat, aber nie Heroin, was uns zu unserer ersten Stoop-Geschichte führt. „Einmal saß ich mit einem Freund an einem kleinen runden Tisch. Ich hatte Kokain vor mir, er Heroin. Aus Versehen dreht er den Tisch um, und ich schniefe sein Zeug. War gar nicht gut für mich. Drei Tage lange habe ich nur gekotzt!“ Mitchell lacht gackernd. 13 Jahre lang war er auf Crack, die meiste Zeit davon hat er gearbeitet. Er hatte eine Familie, eine Frau und zwei Söhne, „und noch ein paar Freundinnen nebenbei.“
Ich komme nicht ganz mit, was die Chronologie angeht, aber Mitchells Familie stammt aus Barbados. In den 70er Jahren lebte er in Oakland, wo er sich das verschwommene Black-Panthers-Tattoo auf seinem Unterarm stechen ließ. Er hat in Vietnam gedient, sagt er, und danach viele Jahre als Wärter in einem Hochsicherheitsgefängnis im Staat New York gearbeitet. „Kein guter Job. Immer eingesperrt, sogar an Thanksgiving. Das einzig Gute daran: Ich hatte eine legale Waffe. Habe sie immer in einem Holster unter dem Arm getragen, nicht am Fuß, das ist Quatsch. Weißt du warum?“ Als ich verneine, steht er auf, bückt sich und tut so, als müsste er eine imaginäre Waffe aus einem imaginären Holster am Fußknöchel pfriemeln, dann lässt er sich von einem imaginären Schuss treffen – „Bam-Bam“ – und torkelt rückwärts. Mitch kichert, setzt sich und zündet den Joint wieder an. Als ich frage, ob er die Waffe mal benutzt habe, sagt er, es gebe Dinge, über die ein Mann nicht spreche. Nach einer Stunde verabschieden wir uns. Mitch fragt, ob ich ihm noch ein paar Dollar leihen könnte und geleitet mich dann gut gelaunt zurück bis zur U-Bahn-Station. Das dauert ein bisschen. Unterwegs schüttelt er jedem, dem wir begegnen, die Hand, sagt „Hi“ und wechselt ein paar Worte.
An der Johns Hopkins Universität unterrichtet D. Watkins Lehrer, Lehrer, die in schwierigen Vierteln arbeiten. „Meine eigenen Lehrer haben immer von mir erwartet, dass ich ihre Kunst und ihren Stil übernehme.“ Um der Misere zu entkommen, brauche es eine bessere Finanzierung der Schulen, kleinere Klassen, aber vor allem Lehrer, die in den Vierteln wohnen, in denen sie unterrichten und die Kultur verstehen, sagt Watkins. „Sonst reproduzieren wir diese Viertel ein ums andere Mal.“
„Wer, Geschlagener, wird dich rächen? / Du, dem sie den Schlag versetzten / Reih dich ein bei den Verletzten.“ In Oakland habe ich ehemalige Gefängnisinsassen und Aktivisten Brechts Gedicht „Keiner oder alle“ skandieren gehört. „Sklave, wer wird dich befreien?“ fragte Brecht. D. Watkins‘ Antwort darauf ist: Worte. Als in seiner Heimatstadt Baltimore 2015 Black-Lives-Matter-Aktivisten auf die Straße gingen und protestierten, weil der junge Schwarze Freddie Gray in Polizeigewahrsam gestorben war, ging D. Watkins mit. Aber er glaubte nicht daran, dass das irgendetwas verändern würde.
Beitragsbild: Anna Sauerbrey
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